Teusaquillo – Der Prenzlauer Berg von Bogotá

von Stephan Kroener

Touristenströme haben die Angewohnheit meist geradlinig von einem Punkt zum anderen zu laufen und dort tumbe Lachen zu bilden. So ist das auch in Bogotá. Doch viele lassen bei diesem Kurzbesuch interessante Viertel sprichwörtlich links liegen. Denn Bogotá ist mehr als hübsch angemalte Kolonialhäuschen. Die Stadt bietet abseits von den Touristenströmen eine Vielfalt, die es mit Berlin oder Barcelona aufnehmen kann…

Touristen in der Candelaria (Foto:Stephan Kroener)

Touristenströme haben die Angewohnheit meist geradlinig von einem Punkt zum anderen zu laufen und dort tumbe Lachen zu bilden. So ist das auch in Bogotá, der Hauptstadt von Kolumbien. Vom Flughafen fließt ein stetiger Fluss an Touristen in großen und kleineren Tropfen Richtung Zentrum, füllt sich mit den Low-Budget-Backpackern vom Busbahnhof und ergießt sich schließlich in die La Candelaria. Dort in der Altstadt steht ein Hostel neben dem anderen und die Bars sind auf ausländische Gäste zugeschnitten. Der Tourismus hat die Gentrifizierung angeheizt und leidet nun selbst an den Folgen. Es fehlt an Authentizität und der gewünschten Local Experience. Nach zwei, drei Tagen hat man alle wichtigen Plätze gesehen und Touren mitgemacht, und so zieht der Strom dieses Mal in entgegengesetzter Richtung zu Flugzeug und Nachtbus.

Doch viele lassen bei diesem Kurzbesuch interessante Viertel sprichwörtlich links liegen. Denn Bogotá ist mehr als hübsch angemalte Kolonialhäuschen. Die Stadt bietet abseits von den Touristenströmen eine Vielfalt, die es mit Berlin oder Barcelona aufnehmen kann. Und so wie das ganze Land sich gerade dem Tourismus öffnet, so zeigen sich auch andere Stadtteile in neuem, charmantem Glanz.

Teusaquillo und das Serie 1948

Eines dieser Viertel ist Teusaquillo. Der Name ist indianischem Ursprung, wurde aber erst später in Reminiszenz auf das indigene Erbe auf dieses Gebiet angewandt. In den 1920 Jahren wurde es dann urbanisiert und an den Rest Bogotás angebunden. Das Stadtbild ist stark europäisch geprägt und gehört heute zu den traditionellsten Teilen der kolumbianischen Hauptstadt. Zu seiner Hochzeit in den 30-50er Jahren galt es als das eleganteste und modernste Wohnviertel. Hier residierte die hauptstädtische Elite und noch viele ihrer urbanen Paläste sind erhalten. Die Anbindung ans Zentrum durch eine Straßenbahn und der Bau von Wohnhäusern mit mehr als zwei Stockwerken, galten als besonders fortschrittlich.
Heute fährt zwar keine Tram mehr, dafür kann man leicht zu Fuß in einer guten halbe Stunde vom Zentrum bis zu den meist im viktorianischen Stil gebauten Stadtvillen laufen. Noch gibt es nicht viele touristische Angebote, aber nach und nach öffnen sich die Tore der riesigen Eingangsportale und man erhält Einblick in eine vergangene Zeit. Eines dieser Tore ließ uns an einem Samstagabend herein in das Serie 1948 auf der Carrera 24 mit 33a.

Catalina vor ihrem Serie 1948 (foto: ruedabogota)

Catalina und ihr Freund Camilo betreiben dieses gemütliche Bed and Breakfast im Herzen einer verlorenen Welt und erhalten damit seinen ehemaligen Glanz. Mit viel Geduld und Detailtreue haben sie aus dem 1948 gebauten einstmaligen Familiensitz ein sogenanntes co-living-Projekt gemacht. Dabei handelt es sich um eine Mischung aus Wohngemeinschaft, Airbnb und Hostel. „Die Häuser sind riesig und viele stehen leer, weil es sich niemand mehr leisten kann, so etwas zu bewohnen“, erklärt Camilo, der in jahrelanger Handarbeit das Haus minutiös umgestaltet hat.

Die beiden wohnen in ihrem eigenen Hotel. Die einzelnen Räume und Apartaestudios (Einzimmerwohnungen) haben sie je nach seiner Eigenart nach internationalen Metropolen benannt. Ein bisschen wie in dem Netflix Klassiker Casa de Papel steht man plötzlich in Tokio oder Paris und betritt so eine eigene Welt im Kosmos einer vergangenen, eine architektonische Matroschka oder urbane Spiegelung (Im Fachjargon Mise en Abyme genannt).

Im Wohnzimmer findet sich noch ein Foto der einstigen Bewohner. Eine immense Großfamilie ist darauf zu sehen, in schicker Mode der vierziger Jahre. Eigentlich müsste das gerahmte Bild auf dem Kamin stehen, aber dessen Holztäfelung ist bei der ersten Feuerung abgeplatzt, weil er keine Dämmung besaß: „Es ist etwas sehr typisch bogotanisches, dass man einen Kamin hat und ihn nicht nutzt“, lacht Camilo. Aber der Kamin ist Teil des Ambientes, das etwas von Designmuseum und Kinderspielzimmer hat. Camilo restauriert und sammelt alles was ihm aus dem letzten Jahrhundert in die Hände kommt. Dutzende Plattenspieler und auch zwei alte Laptops hängen und stehen and den Wänden. Es sind diese Details die den Charme des Hauses und des Viertels ausmachen. Es fühlt sich an, als ob die kinderreiche Vorbesitzerfamilie noch hier wohnen würde, und man bei ihnen zu Besuch wäre und nicht bei den jetzigen Bewohnern.

Ein Koffer der Besitzer oder eines Gastes (Foto: ruadabogota) Der umfunktionierte Patio (Foto: ruedabogota)

Local Experience

Heutzutage ist dieser Retroschick wieder Mode. Das zeigen auch die Besucher, die sich nach und nach bei Camilo und Catalina einfinden, um an der Salsa-Klasse mit anschließender Local Experience teilzuhaben. Als ich Catalina frage, was das für eine Tour sei, berichtigt sie mich sofort im perfekten Englisch, „Es ist keine Tour im eigentliche Sinne, sondern eine nachbarschaftliche Erfahrung“. Ich sollte an diesem Abend noch einen weiteren Anglizismus lernen: remote job. Catalina hatte mich eingeladen, um an ihrer „nachbarschaftlichen Erfahrung“ teilzunehmen und so stellte ich mich im Kreis auf mit vier Kolumbianern und drei anderen Gringos, den remote jobbern. Diese reisen zusammen durch die Welt, besuchen jeden Monat ein anderes Land, lernen Sprachen oder eben tanzen, arbeiten dabei aber als digitale Nomaden weiterhin in ihren angestammten Berufen. Obwohl ich nun schon viele Jahre in Kolumbien lebe, musste ich eingestehen, dass ich keine drei Schrittfolgen behalten konnte. Meine professionelle Lehrerin Lorena hatte jedoch kein Erbarmen mit mir und schubste mich über die Tanzfläche, die eigentlich der ehemalige und heute überdachte Patio des altehrwürdigen Gemäuers ist.

Dieses Haus ist die eigentliche Attraktion des für mich noch verschwommenen Konstruktes der Local Experience. Gebaut wurde es 1948, also in dem Jahr, als das Zentrum Bogotas durch den Bogotazo-Aufstand nach der Ermordung des populären sozialen Führers Jorge Eliecer Gaitáns teilweise zerstört worden war. Gaitáns ehemaliges Wohnhaus steht nicht weit entfernt und ist ein heutiges Museum, in dem kostenlose Führungen durch Studenten der Universidad Nacional angeboten werden. Viele rolos – wie die Bogotaner auch genannt werden – zogen nach dem Bogotazo in die Vorstädte und damit nach Teusaquillo. Das kolumbianische Schicksalsjahr 1948 steht deshalb auch im Namen des kleinen Hotels von Camilo y Catalina.
Catalina brachte uns nach getaner (Tanz-)Arbeit einen Aguardiente, einen klaren Anisschnaps, und damit ein wenig Entspannung. Eigentlich sollten wir uns danach ein Fahrrad wählen, doch entschieden wir uns schließlich zu Fuß die Nachbarschaft zu erkunden. Ringsherum um das 1948 gibt es weitere architektonische Juwelen in neokolonialem, französischem und englischem Stil. Aber auch orientalische Einflüsse sind zu erkennen. Diese beruhen auf dem Zuzug von syrisch-libanesischen und jüdischen Immigranten, die sich mit der europäischen Architektur und den lateinamerikanischen Nachbarn mischten. Auch die erste Synagoge der Stadt wurde in Teusaquillo gebaut.

El Park Way (Foto: ruedabogota)

Teusaquillo ist vor allem bei NGOs, Ausländern und aus irgendeinem Ausland zurückgekehrten Kolumbianern beliebt. Das verleiht dem Stadtteil eine historische und moderne Multikulturalität. Auf dem Park Way, der gerne auch als erster Boulevard Bogotas bezeichnet wird, schlenderten wir zwischen zwanzig Meter hohen Bäumen durch die Millionenstadt. Der Park ist ein langgezogener „Grünstreifen“ zwischen zwei breiten Straßen. Er basiert auf der Planung des österreichischen Stadtentwicklers Karl Brunner, der in den vierziger Jahren ein Anhänger der architektonischen Bewegung beautiful city und des Konzeptes der garden city war.

Von Brunner kamen wir nach Bukowski. Eine Szene-Bar, in der man auch mal den Oberbürgermeister Enrique Peñalosa treffen kann, auch wenn es eher privat zugeht. Teusaquillo hat sich sicherlich gemacht, es ist ein bisschen wie der Prenzlauer Berg in Berlin, die bürgerliche Elite ist ausgezogen und ihren Platz haben Kreative übernommen. Hier mischt sich eine hippe Szene mit einem traditionellen Stadtbild, das sich jeder Tourist nicht nur auf seinem Rückweg zum Flugzeug und Bus ansehen sollte.

Unser Blogger in Kolumbien

Stephan Kroener hat einen Großteil der letzten Jahre in Kolumbien verbracht. Seit 2018 unterstützt er avenTOURa mit Erlebnisberichten zu seinem Lieblingsland.

avenTOURa ist mit Auszeichnungen und Mitgliedschaften seit über 25 Jahren in der Touristikbranche etabliert.